sabato 16 agosto 2008

D. Losurdo und A. Arndt: Über den Charakter, die historische Rezeption und Wirkung, und die gegenwärtige Bedeutung der Hegelschen Philosophie

Die türkische Philosophiezeitschrift „Baykuş: Felsefe Yazıları Dergisi” (Minerva: Zeitschrift für philosophische Schriften) führte ein Interview mit Professor Andreas Arndt (Vorsitzende der „Internationalen Hegel-Gesellschaft“) und mit Professor Domenico Losurdo (Präsident der „Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken“) über die Bedeutung der Hegelschen Philosophie heute, das in der 2. Nummer der genannten Zeitschrift in Übersetzung aus dem Deutschen von Dr. Doğan Göçmen veröffentlicht wurde. Das Interview wurde von Doğan Göçmen geführt, wobei an der Formulierung der Fragen auch die Redaktionsmitglieder Güçlü Ateşoğlu, Kaan Özkan und Savaş Yazıcı beteiligt waren. „Baykuş” (info@alefyayinevi.com) erscheint drei mal im Jahr und fühlt sich dem Prinzip der menschlichen Emanzipation verpflichtet und akzeptiert philosophische Schriften im umfassenden Sinne des Wortes in allen Sprachen.


DG: Professor Arndt, Professor Losurdo, Sie sind beide Vorsitzende bzw. Präsident von zwei internationalen Philosophiegesellschaften. Herr Andreas Arndt, Sie sind der Vorsitzende der "Internationalen Hegel-Gesellschaft". Herr Domenico Losurdo, Sie sind der Präsident der "Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken". Beide Gesellschaften tragen in ihren Vereinsnamen Hegels Name. Seit Hegels Tod im Jahre 1831 sind mehr als 170 Jahre vergangen. um nur die bekanntesten Werke zu nennen: Seine erstes eigenständiges philosophisches Werk, die Phänomenologie des Geistes, wurde vor 200 Jahren veröffentlicht und erfreut sich dieses Jahr vieler internationale Kongresse und Konferenzen. Seine Wissenschaft der Logik ist mehr als 190 Jahre alt. Seit der Veröffentlichung der Grundlinien der Philosophie des Rechts sind mehr als 180 Jahre verstrichen. Gemessen an einem Menschenleben, möchte man fast sagen, haben wir bei Hegel mit einem 'uralten' Philosophen zu tun. Was macht Hegel so wichtig, was macht seine Philosophie so einzigartig, dass Sie auf Hegels Name nicht verzichten wollen? Warum muss aus Ihrer Sicht Hegels Tradition fortgesetzt werden, wie Sie es durch Ihre Gesellschaften beabsichtigen? Also warum heute noch Hegel?

AA: Warum heute noch Hegel? Weil Hegel, kurz gesagt, ein Denker ist, der ganz gegenwärtig ist, weil er unsere Gegenwart – die Moderne – wie kein zweiter Philosoph umfassend und systematisch reflektiert hat. Diese kurze Antwort bedarf einer längeren Erläuterung.

Für Hegel selbst ist jede Philosophie „ihre Zeit in Gedanken gefaßt“. Wir können also, wenn wir uns mit Hegel befassen, den Zeitbezug nicht leugnen – weder den unserer eigenen Philosophie, noch den der Hegelschen Philosophie. Zeitbezug heißt jedoch nicht, dass alles Denken relativiert und damit beliebig wird. Hegel war ja der erste Denker, der Philosophie in ihrem Wahrheitsanspruch radikal als geschichtlich konstituiert verstanden hat, denn der Geist – und die Philosophie ist für ihn die höchste Stufe des Geistigen – kommt nur geschichtlich zum Verständnis seiner selbst. Dies ist eine der grundlegenden Einsichten, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes vor gut 200 Jahren formuliert hat.
Auf der anderen Seite ist es richtig, dass Hegel davon ausgeht, dass die Philosophie im absoluten Wissen, wie es dann in seiner inneren Struktur in der Wissenschaft der Logik systematisch entfaltet wird, prinzipiell vollendet sei und insofern die Zeit „getilgt“ habe, wie es in der Phänomenologie heißt. Und auch die Weltgeschichte ist damit, nach Hegels Auffassung, an ein Ende gekommen, denn diese ist ihm Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, und im absoluten Wissen der Philosophie ist sich der Geist selbst als Freiheit durchsichtig geworden.

Auf den ersten Blick scheint sich der Gedanke der radikalen Geschichtlichkeit der Philosophie einerseits mit dem Gedanken der absoluten Vollendung des Wissens und dem Ende der Geschichte andererseits kaum vereinbaren zu lassen. Tatsächlich besagt der zweite Gedanke jedoch nicht, dass es kein Fortschreiten in der Zeit mehr gäbe, sonder nur, dass das geschichtlich konstituierte Bewusstsein der Freiheit für uns unhintergehbar (und insofern „absolut“) geworden sei. Dass das Bewusstsein der Freiheit noch nicht deren Realisierung in der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit bedeutet, wusste Hegel selbst sehr gut. Geschichte mit Hegel als Freiheitsgeschichte zu denken, bedeutet also, die jeweilige politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit kritisch vom Begriff der Freiheit und den Realisierungsmöglichkeiten der Freiheit her zu denken.

Was den Abschluss der Philosophie in einem absoluten Wissen betrifft, so ist dieser Hegelsche Gedanke immer wieder, und zum Teil äußerst heftig, bestritten worden. Ich bin mir allerdings nicht sicher, dass dieser Kritik in der Regel auch ein angemessenes Verständnis Hegels zugrunde liegt. Absolut ist das Wissen in dem Sinne, dass es seine interne Struktur – das kategoriale Netz der reinen Denkbestimmungen – vollständig geklärt hat. Dies geschieht in der Wissenschaft der Logik, aber auch hier weiß Hegel selbst, dass dieses kategoriale Netz sich in den Realwissenschaften „bewähren“ muss. Ob dies der Fall ist, wird in der Hegel-Kritik aber meistens nicht gefragt, sondern es wird Hegel pauschal unterstellt, sich über die Empirie hinwegsetzen zu wollen.

Hegel versteht in seiner Logik die absolute Idee letztlich als Methode. Für mich heißt das: sie ist Denkmittel, das im Gebrauch zu bewähren und ggf. zu modifizieren ist. Die Eigenart dieses Mittels besteht aber genau darin, dass es auf das Ganze, auf die Totalität unseres Wissens und der Wirklichkeit geht und willkürliche Beschränkungen nicht akzeptiert. In diesem Absolutheitsanspruch liegt, wie schon Adorno klar formuliert hat, eine fundamentale Kritik jedes beschränkten Denkens, das in Wahrheit ein Begrenztes verabsolutiert.

Zusammengefasst: Hegel ist aktuell, weil seine Philosophie in jeder Hinsicht von Grund auf kritisch ist und damit die Selbstreflexion der Moderne, die unsere Gegenwart ist, weiter vorantreibt.

DL: Erstens; Trotz der langen Zeit, die seit Hegels Tod inzwischen vergangen ist, spricht Hegel weiterhin zu uns und von uns. Einerseits begeht er nicht den Fehler, der für einen gewissen Vulgärmarxismus typisch ist, der, mitgerissen von der messianischen Erwartung des Absterbens des Staates und der Macht schlechthin, überheblich von den „formellen Freiheiten“ und dem rule of law redet. Andererseits kommt Hegel, noch vor Marx, das Verdienst zu, hervorgehoben zu haben, dass die materielle Ungleichheit, wenn sie ein bestimmtes Niveau erreicht, auch die Freiheit zunichte macht: weil der Hunger (und die Gefahr des Hungertodes) „den ganzen Umfang der Realisierung der Freiheit angreift“ (Vorlesungen Rph., 4, S. 342), die „totale Rechtlosigkeit“ mit sich bringt (Rph., § 127), letztendlich gleichbedeutend mit Sklaverei ist. Und die Sklaverei wird als das „absolute Verbrechen“ bezeichnet (Rph. 1817-18, § 45 A). Daher die Theoretisierung der unverzichtbaren „materiellen Rechte“ (B. Schr. S. 488), des „positiven, erfüllten Rechts“ (Rph. 1817-18, § 118 A).

Hegel wirft dem Liberalismus vor, sich ausschließlich um die „ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums“ zu kümmern, ohne das Problem des „Wohls jedes Einzelnen“, des „besonderen Wohls“ zu erwägen (Rph., § 230). Die Theoretiker des laissez-faire verfechten die These, die Krise ganzer ökonomischer Sektoren „ginge den Staat nichts an“, denn „wenn auch einzelne zugrunde gingen, so hebe sich dadurch das Ganze“. Hegel entgegnet aber, dass jedes einzelne Individuum, „jeder das Recht zu leben“ habe (Rph. 1817-18, § 118 A). Die Kritik des liberalen Holismus ist zugleich die Kritik einer Doktrin und einer politischen Ordnung, die den materiellen Lebensbedingungen der konkreten Individuen keine Achtung schenken. Es handle sich „darum, daß das Individuum auch nach seiner Besonderheit als Person betrachtet wird“ (Rph. 1819-20, S. 188); es sei jedoch unmöglich, es in seiner Besonderheit zu betrachten, wenn man von seinen materiellen Bedürfnissen abstrahiere.

Zweitens; aber nicht einmal dies ist der wichtigste Punkt. Selbst, wenn sie alle wesentlich sind, können die verschiedenen Aspekte der Freiheit in einer bestimmten historischen Situation in Konflikt miteinander geraten. Zur Klärung dieses Konflikts der Freiheiten können wir Adam Smith (Lectures on Jurisprudence) heranziehen. Er merkt an, dass die Sklaverei leichter „unter einer despotischen Regierung“ als unter einer „freien Regierung“ abgeschafft werden könne, in der „jedes Gesetz von ihren [der Sklaven,-DL] Herren verabschiedet wird, die niemals eine für sie nachteilige Maßnahme durchgehen lassen werden“. Mit Blick auf die englischen Kolonien in Amerika, wo es eine Art lokale Selbstregierung durch die oft sklavenbesitzenden weißen Siedler gibt, und wo gerade der liberale Locke (The Fundamental Constitutions of Carolina) auch auf verfassungsmäßiger Ebene den Grundsatz der „absoluten Gewalt und Autorität“ eines jeden „freien Mannes“ „über seine schwarzen Sklaven“ verbürgt sehen will, mit Blick auf diese Realität, merkt Smith an: „Die Freiheit des freien Mannes ist die Ursache der großen Unterdrückung der Sklaven. Und da sie den zahlreichsten Anteil der Bevölkerung stellen, wird keine mit Humanität ausgestattete Person die Freiheit in einem Land herbeiwünschen, in dem diese Institution besteht“. Zu Denken gibt die hier indirekt von Smith zum Ausdruck gebrachte Präferenz für die „despotische Regierung“, die einzige Regierungsform, die in der Lage ist, die Institution der Sklaverei abzuschaffen. Der Konflikt, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht der zwischen „formeller“ und „substanzieller“ Freiheit, wie in der marxistischen Vulgata heisst; und auch nicht der, der die Verteidiger und Feinde der „negativen Freiheit“, von der Berlin spricht, oder der „offenen Gesellschaft“, von der Popper spricht, einander gegenüberstellt. In dem hier untersuchten Fall ist der Konflikt ein ganz anderer: infrage gestellt wird weder der Wert der „formellen“ oder „negativen“ Freiheit, noch der Wert der politischen Freiheit (und der lokalen Selbstregierung). In einer konkreten und bestimmten Situation erweist sich die Forderung nach der „negativen“ und mehr noch nach der politischen Freiheit in hoffnungslosem Widerspruch zur lokalen Selbstregierung und zur politischen Freiheit der Sklavenbesitzer. In der Tat wird viele Jahrzehnte später die Sklaverei im Süden der Vereinigten Staaten erst nach einem blutigen Krieg und der darauffolgenden, von der Union den sezessionistischen und Sklavenhalterstaaten aufgezwungenen Militärdiktatur abgeschafft. Und man braucht nur ein paar der damaligen „demokratischen“, das heißt die Sklaverei befürwortende Pamphlete zu lesen, um sich ein Bild von den Jakobinischen Methoden Lincolns zu machen, der beschuldigt wird, „Militärregierungen“ und „Militärgerichte“ eingesetzt, und „das Wort “Gesetz” als den „Willen des Präsidenten“ interpretiert zu haben, und den habeas corpus als die „Macht des Präsidenten, jeden und so lange es ihm beliebt einzusperren“. Nach dem Verzicht auf die eiserne Faust seitens der Union, sehen sich die Weißen erneut den habeas corpus und die lokale Selbstregierung anerkannt, aber den Schwarzen werden nicht nur die politischen Rechte entzogen, sondern sie werden einem Regime der Apartheid, sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen und der Lynchjustiz unterworfen, das heißt einem Regime, das für die ehemaligen Sklaven praktisch weiterhin den Ausschluss von der negativen Freiheit mit sich bringt.

Man könnte sagen, dass der Konflikt der Freiheiten der Leitfaden der Hegelschen Interpretation der modernen Geschichte ist. Es stimmt, die konkrete historische Lage, in der die politische Aktion stattfindet, ist oft von einem Konflikt der Freiheiten und der Rechte gekennzeichnet. Es gibt ein Paradebeispiel, das Hegel der griechischen Tragödie entnimmt. Der Konflikt zwischen Antigone und Kreon ist die Kollision zwischen zwei „sittlichen Mächten“. Antigone repräsentiert die „Familienliebe“, die Anhänglichkeit an die Gefühle und die natürlichen Bindungen der Verwandtschaft, Kreon verkörpert das „Gesetz des Staats“, die Objektivität der Rechtsnorm. Unter normalen Bedingungen leben beide Mächte in einer übereinstimmenden und problemlosen Einheit zusammen, aber es können Konfliktsituationen auftreten, die zu einer schmerzlichen, ja sogar tragischen Wahl zwingen. „Kreon ist nicht ein Tyrann, sondern ebenso eine sittliche Macht“. Deshalb ist die Antigone von Sophokles das „absolute Exempel der Tragödie“ (Werke, 17, S. 133). Und die Tragödie ist das Modell, die geeignetste Literaturgattung, um die großen historischen Konflikte zu verstehen. Gerade, weil Hegel beständig den Konflikt der Freiheiten im Auge hat und hervorhebt, dass Cäsar es ist, der die Allgemeinheit verkörpert, anerkennt er problemlos, dass Brutus, Cäsars Mörder, ein „höchst edles Individuum“ ist: die „edelsten Männer Roms“ nähren die Illusion, dass es genüge, eine einzelne Person zu eliminieren, um eine republikanische Freiheit zu retten, die von jeher das Instrument einer begrenzten privilegierten Schicht, und jetzt zu „leerem Formalismus“ geworden ist (Ph. G., S. 712).

Aber kommen wir zur Formierung der modernen Welt. Im Ancien Régime führe die „Freiheit der Barone“ zur „absoluten Knechtschaft“ der „Nation“ und verhindere die „Befreiung der Hörigen“. Deshalb ist „das Volk [...] überall durch die Unterdrückung der Barone befreit worden“ (Ph. G., S. 902-3). Der Adel verspüre den Verlust des Privilegs, das ihn beispielsweise zum einzigen Verwahrer der Rechtspflege machte, als „ungehörige Gewalttätigkeit, Unterdrückung der Freiheit und Despotismus“ (Rph., § 219 A). Hegel, der Hallers Polemik gegen die „despotischen“ antifeudalen Gesetze sehr wohl gegenwärtig hat (B. Schr., S. 680) spricht selbst ohne Bedenken von „Despotismus“, allerdings mit einer anderen und entgegengesetzten Bedeutung: „Die Revolutionen gehen nun entweder vom Fürsten oder vom Volk aus. So hat der Kardinal Richelieu die Großen unterdrückt und das Allgemeine über sie erhoben. Dies war Despotismus, aber die Unterdrückung der Vorrechte der Vasallen war das Wahre“ (Rph. 1817-18, § 146 A). Der hier verteidigte „Despotismus“ ist der revolutionäre, antifeudale Despotismus, was auch von der Rühmung jener „ungeheuren Revolution“ bestätigt wird, an der Friedrich II. beteiligt war, und die zum „Verschwinden der Bestimmung von Privateigentum, Privatbesitz in Bezug auf den Staat“ geführt habe (Vorlesungen Rph., 4, S. 253). Wie man besonders am Beispiel Richelieus gesehen hat, ist dieser Despotismus ein Moment der Verwirklichung der Allgemeinheit und bildet gerade deshalb eine kontinuierliche Linie mit den nachfolgenden Revolutionen von unten; nachdem es zum ersten Mal in den Reformen in Erscheinung getreten war, die von oben den Abbau der Hörigkeit erzwingen und nachdem es sich in der amerikanischen Revolution durchgesetzt hatte, befestigte sich „das Prinzip der allgemeinen Grundsätze [...] in dem französischen Volke und brachte dort die Revolution hervor“ (Ph. G., S. 920).

Die positive Bewertung des antifeudalen Despotismus ignoriert oder unterschätzt nicht die damit verbundenen Kosten, sie verdrängt also nicht die Tatsache, dass wir es weiter mit einem Konflikt der Freiheiten zu tun haben. Dies wird außerdem von der Analyse des Übergangs im alten Rom von der Monarchie zur Republik und von der Republik zum Kaiserreich bestätigt. Weit davon entfernt, das „Allgemeine“ zu repräsentieren, repräsentiert der republikanische Senat, ein Ausdruck jener Patrizier, die eine Monarchie gestürzt hatten, die von ihnen beschuldigt wurde, sich den Plebejern gegenüber zu wohlwollend zu verhalten, das „Partikuläre“ und das heißt, die Interessen der Aristokratie; Cäsar überwinde dagegen, zwar mit Rekurs auf „Gewalt“, die „Partikularität“ und bringt das „Allgemeine“ zur Geltung (Ph. G., S. 690-93 und S. 711-12). Den gleichen Weg einschlagend, komme später Caracalla das Verdienst zu, „alle Unterschiede zwischen den Untertanen des ganzen Römischen Reiches aufgehoben“ und die „Gleichheit der Bürger“ sanktioniert zu haben. Ja, „der Despotismus ist es, der die Gleichheit einführt“. Es handle sich aber um die „abstrakte“ Freiheit des „Privatrechts“. Auf „Privatpersonen“ reduziert, seien die Individuen von jeglicher politischer Beteiligung ausgeschlossen. Zwischen dem Kaiser und dem „Volk“ „fehlte eine rechtliche und sittliche, d. i. eine Organisation des Staates, das Band einer Verfassung, die eine Ordnung für sich berechtigter Kreise des Lebens in den Gemeinden und Provinzen bildet, die für das allgemeine Interesse tätig, auf die allgemeine Staatsverwaltung einwirken“ (Ph. G., S. 716-7). Mit dem Kaiserreich hat das reiche politische Leben einer Republik aufgehört, selbst wenn diese von einer Aristokratie beherrscht wurde, die unbeirrt an einer Ordnung festhielt, die sich auf die Unterdrückung der Plebs stützte; allerdings sind die Rechtsgleichheit und die Freiheit der Privatperson auf den Trümmern einer republikanischen Freiheit eingeführt worden, in deren Genuss nur ein enger Kreis von Privilegierten und Unterdrückern gekommen war.

Es ist der Konflikt der Freiheiten, den wir kennen, und den Hegel systematischer in seiner Analyse des „Notrechts“ theoretisch fasst. Der Hungernde, der sich in Lebensgefahr befindet, hat das Recht, ein Stück Brot zu stehlen, das ihm das Überleben zusichert. Gewiss verletzt er auf diese Weise beim Bestohlenen den freien Genuss seines Eigentums; dennoch ist dieser Diebstahl der Versuch, einer Situation zu entfliehen, die von „totaler Rechtlosigkeit“ gekennzeichnet ist. Auf dem Konflikt der Freiheiten, der sich in diesem Fall ergibt, besteht Hegel energisch: „Es steht hier ein zwiefaches Unrecht gegenüber, und die Frage ist, welches als das größere anzusehen. Das geringere ist gegen das höhere ein Unrecht“. Das Opfer des Lebens vor dem Eigentum abzulehnen, bedeute das höchste Unrecht zu verhindern; das „strenge Recht“ gegen das Notrecht „streng“ geltend machen, bedeute, das „Unrecht“ oder jedenfalls das höchste Unrecht geltend machen (Vorlesungen Rph., III, S. 403 u. S. 405). Es ist ein Konflikt der Freiheiten, den Hegel sich auch auf logischer Ebene zu überprüfen bemüht. Der Hungernde, der das Eigentum verletzt, spricht über den bestohlenen Eigentümer ein einfach-negatives Urteil aus, das nicht seine Rechtsfähigkeit infrage stellt; Eigentumsverhältnisse, die den Hungernden aussichtslos verurteilen wollen, sprechen ein negativ-unendliches Urteil über ihn aus, sie aberkennen ihm nicht ein besonderes und begrenztes Recht, sondern die Gesamtheit der Rechte, sie üben praktisch die gleiche Gewalt über ihn aus, die ein Krimineller ausüben könnte.

Drittens; die ständige Berücksichtigung der Geschichte und des komplexen und widerspruchsvollen Charakters des historischen Prozesses ermöglicht es Hegel, den „Dogmatismus des gemeinen Bewusstseins“ zu vermeiden, dem auch die berühmtesten Vertreter der liberalen Tradition letztendlich erliegen. Untersuchen wir einen konkreten Fall: Wie lässt sich, verglichen mit Frankreich, die starke Verwurzelung des rule of law in den und die größere politische und institutionelle Stabilität der Vereinigten Staaten erklären? Die Aufmerksamkeit auf die „geographische Grundlage der Weltgeschichte“ lenkend, weisen die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte darauf hin, dass der „Ausweg der Kolonisation“ der nordamerikanischen Republik erlaubt, den sozialen Konflikt erheblich zu entschärfen. Letzten Endes: „Hätten die Wälder Germaniens noch existiert, so wäre freilich die Französische Revolution nicht ins Leben getreten“ (Werke, 3. S. 113). Diese Analyse kann ergänzt werden: Die Institution der Sklaverei hat eine eiserne Kontrolle über die "gefährlichen Klassen" am Ort der Produktion selbst ermöglicht, während das Fehlen anderer Großmächte und ernsthafter Bedrohungen der nationalen Sicherheit auf dem amerikanischen Kontinent das Entstehen eines Ausnahmezustands und von akuten Krisensituationen, welche das rule of law gefährden oder außer Kraft setzen, sehr viel schwieriger als in Europa gemacht hat.

Ganz anders steht es mit dem, was Hegel als den „Dogmatismus des gemeinen Bewusstseins“ kritisiert. Man konzentriert sich auf eine Besonderheit, beispielsweise auf das rule of law in den Vereinigten Staaten: sie wird losgelöst von der Gesamtheit des politisch-sozialen Lebens betrachtet. Es wird deshalb abstrahiert vom Schicksal der Indianer, der Afroamerikaner und anderer ethnischer Gruppen und damit von Hegels großer Lektion ignoriert: „Das Wahre ist das Ganze“ (Werke, 3, S. 24). Die untersuchte und hervorgehobene Besonderheit wird auch vom geografischen, geopolitischen und historischen Zusammenhang gelöst. Mittels einer Reihe von Verdrängungen und logischen Sprüngen wird aus dem rule of law, das in Wirklichkeit nur für die Gruppe der Weißen gilt, die Herrschaft des Gesetzes im allgemeinen; und diese Herrschaft des Gesetzes, gedacht als jenseits jeglicher materieller und empirischer Bedingtheit, wird dann zur Charakteristik eines Volkes, das durch einen geheimnisvollen Plan der Natur oder der Vorsehung dazu berufen ist, die Universalität zu verkörpern. Schließlich ist diese Universalität von einer derart makellosen Reinheit, dass sich ihr nur Barbaren oder Verrückte widersetzen können.

So stellt also Tocqueville (L’Ancien Régime et la Révolution) den "praktischen Menschenverstand" und die ausgesprochene Freiheitsliebe der Angloamerikaner und insbesondere der Vereinigten Staaten dem unverbesserlichen Herdentrieb und Extremismus der Franzosen gegenüber: diese haben „Angst vor Isolierung“ und hegen „Sehnsucht, in der Menge zu sein“, fühlen sich als Mitglieder einer „Nation, die im Gleichschritt und in Reih und Glied marschiert“; sie sehen in der Freiheit „das unwichtigste ihrer Güter, und sind so immer bereit, sie samt der Vernunft in Augenblicken der Gefahr zu opfern“. Daraus folgt, auf der einen Seite haben wir „die Völker, die für die Freiheit gemacht sind“, auf der anderen die „Nationen, die sich besser für die Knechtschaft eignen“ oder jedenfalls „unwürdig [sind] frei zu sein“. Diese Gegenüberstellung beinhaltet auch eine eindeutige ethische Bewertung. Der gesunde Menschenverstand und der praktische Sinn der Angloamerikaner sind ein konstitutives Element einer allgemeineren Gemütsverfassung, auf deren Grundlage „die Kenntnis des wohlverstandenen Eigeninteresses genügt, um den Menschen zum Gerechten und Ehrenhaften zu führen“. Den moralischen Völkern stehen jetzt anscheinend die unmoralischen gegenüber.

Das Abdriften ins Psychologische und Anthropologische zeigt sich auch bei der Interpretation der politischen und sozialen Konflikte innerhalb eines bestimmten Landes. Schauen wir, mit welchen Begriffen Montesquieu Richelieu brandmarkt: „Dieser Mann hätte den Despotismus, wenn er ihn nicht im Herzen gehabt hätte, im Hirn gehabt“; andrerseits wird bei Montesquieu die Feudalaristokratie, die den monarchischen Absolutismus schwächen möchte, um jeglichen Angriff auf die Institution der Leibeigenschaft zu verhindern, als eine Klasse dargestellt, die intellektuell und emotional der Sache der Freiheit treu ergeben ist. Man sollte auch die verächtliche Mahnung lesen, die Tocqueville an die Volksklassen richtet, welche nach „materiellen Güter“ strebten und unfähig seien, die Freiheit als solche zu schätzen: „Wer in der Freiheit etwas anderes sucht als diese selbst, ist zum Dienen geschaffen“. Und erneut werden die zur Freiheit und die zur Knechtschaft bestimmten einander entgegengestellt: einerseits haben wir „die großen Herzen, denen Gott gegeben hat“, das „erhabene Verlangen“ nach Freiheit zu fühlen, auf der anderen die „mediokren Seelen“, denen dieses „erhabene Verlangen“ ein für alle Mal abgeht: „Man muss darauf verzichten, dass sie es verstehen“.

Dieses Abdriften ins Psychologische und Anthropologische ist auch heutzutage keineswegs verschwunden: wir haben es bei gefeierten Autoren wie Popper und Berlin vorgefunden; aber es ist die herrschende Ideologie insgesamt, die dazu neigt, die Konflikte der historischen und politischen Welt letztendlich als den Zusammenstoß zwischen vornehmen Seelen und gemeinen Seelen zu interpretieren. Die Überlegenheit des Hegelschen Ansatzes scheint mir offensichtlich und unleugbar zu sein.

DG: Professor Arndt, Professor Losurdo, in Ihren Antworten auf unsere Frage, worin Hegels Aktualität bestehe, haben Sie Hegels Freiheitstheorie in den Mittelpunkt gestellt. In der Tat ist Freiheit Hegel zufolge der Zweck all unserer Handlungen, ob wir es in individuellen Lebenszusammenhängen oder weltgeschichtlichen Zusammenhängen betrachten. Das widerspricht der gängigen Vorstellung von Hegel als ‚Philosoph des Totalitarismus’, wie er leider auch von vielen sich als kritisch verstehenden Philosophen dargestellt wird. Den Ausgangs- und Mittelpunkt einer solchen Darstellung bildet sicherlich die Konzeption der Philosophie Hegels, die davon ausgeht, wie Sie hervorgehoben haben Professor Arndt, dass sie „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ sei, wie Hegel es im „Vorwort“ zu Rechtsphilosophie betont, aber denselben Gedanken auch in seinen Vorlesungen über die Gesichte der Philosophie mehrmals ausspricht. Dieses Selbstverständnis der Philosophie kann für die Konzeption der Wahrheit nicht ohne Folgen bleiben. Folgerichtig haben Sie Professor Losurdo aus dem „Vorwort“ der Phänomenologie zitiert, wo es heißt. „Das Wahre ist das Ganze“. In beiden Feststellungen formuliert Hegel seinen berühmten Totalitätsanspruch. Zwei Feststellungen, die Hegel dem oben erwähnten Vorwurf ausgesetzt haben, er sei der Philosoph des Totalitarismus. Karl Popper hat ihn deshalb zu den ‚Feinden der offenen Gesellschaft’ gezählt und Adorno hat den lapidaren Gegensatz gegen Hegels Satz, das Wahre sei das Ganze, formuliert: das Ganze sei das Unwahre. Obigen Feststellungen Hegels liegt freilich seine Konzeption der Dialektik zu Grunde, die Hegel gegen den Dualismus, namentlich gegen den Kantschen Dualismus entwickelt hat. Insofern kann man behaupten, dass Poppers und Adornos Angriffe dem Herzstück der Hegelschen Philosophie gelten. Die Frage in diesem Zusammenhang wäre dann, ob die Philosophie ohne die Dialektik, wie sie von Hegel konzipiert worden ist, überhaupt auskommen kann. Sie haben die Frage in Ihren Antworten auf unsere erste Frage bereits mehr implizit denn explizit geantwortet. Können Sie Ihre Gedanken auch unter der Berücksichtigung der Frage, ob Dialektik überhaupt eine Methode ist, weiter ausführen?

DL: Hegel des Totalitarismus zu bezichtigen hat wirklich weder Hand noch Fuß. Zunächst ist die fragliche Kategorie keineswegs eindeutig. Besteht Arendt auf der Neuheit des totalitären Phänomens, so kommt Popper zu einem entgegengesetzten Schluss, denn für ihn “gehört der Totalitarismus zu einer Tradition, die so alt oder so jung ist wie unsere Kultur”; haben die soeben zitierten Autoren vor allem Kommunismus und Nazismus im Visier, dann zieht Adorno den “totalitären Kapitalismus” und das “berechnende Denken” als solche heran. Heutzutage wird die Kategorie Totalitarismus hauptsächlich dazu benutzt, um die Verantwortlichkeit des liberalen Westens in der Tragödie des 20. Jahrhunderts zu verschleiern: einerseits verdrängt man mit dieser Kategorie den Ersten Weltkrieg, als, um es mit Weber zu sagen, “dem Staat (…) ‘legitime Macht’ über Leben, Tod, Freiheit zugeschrieben” wurde; andererseits verdrängt man die koloniale Tradition, die der Nazismus zu übernehmen gedenkt, indem er die Völker Osteuropas wie die Indianer dezimiert und die Überlebenden dazu zwingt, wie die schwarzen Sklaven im Dienste der Herrenrasse zu arbeiten. Totale Machtentfaltung zum Nachteil der Kolonialvölker und totaler Krieg zwischen den kolonialistischen und imperialistischen Mächten, der dann in der kapitalistischen Metropole ausbricht: das sind die Ursachen des “Totalitarismus”! Alles andere als Hegel!

Zwar ermittelt Adorno, polemisch Hegels These umkehrend, gerade im Ganzen das Unwahre; wenn er allerdings zu einer konkreten historischen Analyse übergeht, ist er gezwungen, sich selber zu widersprechen. Er hebt die “ultranominalistische Apologetik” bei Pareto hervor (dem Lehrer oder einem der Lehrer Mussolinis) (vgl. Beitrag zur Ideologienlehre). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Isaiah Berlin, der in Joseph de Maistre einen Vorläufer des Faschismus erblickt. Der Nominalismus des französischen Theoretikers der Reaktion ist offensichtlich. Der Grundfehler der französischen Revolution besteht für ihn darin, dass sie den Allgemeinbegriff Mensch, den Begriff des Menschen schlechthin theoretisch gefasst hat: “Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen usw. kennen gelernt; dank Montesquieu weiß ich, dass man auch Perser sein kann; aber was den Menschen betrifft, erkläre ich, ihm nie in meinem Leben begegnet zu sein; sollte er existieren, so ohne mein Wissen”.

Die “ultranominalistische Apologetik” Paretos bzw. Maistres ist gerade der Gegenpol des Hegelschen Ganzen und diese “ultranominalistische Apologetik” wirkt ganz stark auch im Nazismus, der das, was wir den anthropologischen Nominalismus bezeichnen könnten, zur Vollendung bringt: die Auflösung des Allgemeinbegriffs Mensch und die Theoretisierung der ‘Untermenschen’, die dazu bestimmt sind, zum Teil ausgerottet und zum Teil versklavt zu werden, um der höheren Herrenrasse Platz zu machen oder sich in ihren Dienst zu stellen. Hegels Lehre ist unentbehrlich nicht nur, um den Nazismus zu bekämpfen, sondern sogar schon, um ihn zu verstehen. Hegel hat erklärt, dass der Mensch schlechthin keine empirische Gegebenheit ist. Wir haben es mit einem Begriff zu tun, der das Resultat eines langen historischen Prozesses und ungeheurer Kämpfe für die Anerkennung ist, in deren Verlauf sich die Sklaven in den Kolonien und die Lohnarbeiter in der Metropole gegen die Verdinglichung und die Reduzierung auf bloße Arbeitsinstrumente erhoben haben, die das vorherrschende Gesellschaftssystem und die vorherrschende Ideologie durchgesetzt hatten. Es ist allerdings hinzuzufügen, dass der historische Prozess der Konstruktion des Allgemeinbegriffs Mensch irreversibel ist, weil sich die Menschen auf lange Sicht die erlangte menschliche und moralische Würde nicht mehr entreißen lassen: “Wäre die bloße Willkür des Fürsten Gesetz und wollte er die Sklaverei einführen, so hätten wir das Bewusstsein, dass dies nicht ginge. Jeder weiß, er kann kein Sklave sein”. Die Freiheit des Menschen als solche “hat die Bedeutung eines Naturseins” einer zweiten Natur erhalten (Werke in zwanzig Bänden, XVIII, 121-22). Man könnte sagen, Hegel habe vorzeitig die Gründe für das Scheitern des Versuchs Hitlers, den Allgemeinbegriff Mensch zu zerstören, erklärt, indem er die zu dezimierenden oder zu versklavenden Untermenschen der Herrenrasse entgegensetzte, die zur Ausübung der Herrschaft berufen waren.

Den Schlüsselkategorien des philosophischen und politischen Diskurses ihre scheinbare Selbstverständlichkeit abzusprechen und den komplexen und widersprüchlichen historischen Prozess, der ihnen zugrunde liegt, hervorzuheben: das ist schon ein zentraler Aspekt der Dialektik. Konzentrieren wir uns jetzt aber auf die Kategorie Totalität. Sie zurückzuweisen bedeutet, sich die Möglichkeit des Verstehens der modernen und zeitgenössischen Geschichte zu verwehren. Die Geschichte des Westens führt uns ein Paradox vor Augen, das von der Geschichte seiner heutigen Führungsnation aus begriffen werden kann: Die Demokratie innerhalb der weißen Gemeinschaft hat sich gleichzeitig mit der Versklavung der Schwarzen und der Deportation der Indianer entwickelt. In 32 der ersten 36 Jahre der Vereinigten Staaten waren ihre Präsidenten Sklavenhalter und Sklavenhalter waren auch diejenigen, die die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung ausgearbeitet haben. Hinsichtlich dieses Paradoxons, das die Geschichte ihres Landes kennzeichnet, haben maßgebliche amerikanische Forscher von der Herrenvolk democracy gesprochen. Die scharfe Grenzlinie zwischen Weißen einerseits und Schwarzen und Indianern andererseits begünstigt die Gleichheitstendenz innerhalb der weißen Gemeinschaft. Die Mitglieder einer Klassen- oder Hautfarbe-Aristokratie neigen dazu, sich selber als „Pairs“ einzuschätzen; die den Ausgeschlossenen auferlegte deutliche Ungleichheit ist die Kehrseite des Gleichheitsverhältnisses, das sich unter denen herausbildet, die die Macht haben, die „Niedrigeren“ auszuschließen. Die Kategorie Herrenvolk democracy kann auch nützlich zur Erklärung der gesamten Geschichte des Westens herangezogen werden. Zwischen dem Ende des neunzehnten und dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geht in Europa die Ausweitung des Wahlrechts Hand in Hand mit dem Kolonisationsprozess, der für die unterworfenen Völker den Zwang zu sklavischer oder halbsklavischer Arbeit mit sich bringt. Die Regierung des Gesetzes (rule of law) in der kapitalistischen Metropole steht in enger Verbindung mit der Gewalt und der bürokratischen und Polizeiwillkür, mit dem Belagerungszustand in den Kolonien. Letztendlich ist es das gleiche Phänomen, das in den Vereinigten Staaten auftritt, nur erscheint es im Fall Europas nicht so offensichtlich, weil die Kolonialbevölkerungen nicht in der kapitalistischen Metropole leben, sondern durch den Ozean von ihr getrennt sind.

Dank Hegel und seiner Dialektik können wir die liberale Gesellschaft als eine widersprüchliche Totalität verstehen. Wenn dieser Ansatz zurückgewiesen wird, so bedeutet das entweder, dass man vor der heute vorherrschenden Apologetik kapituliert, die die furchtbaren Ausschlussklauseln verdrängt, die die Geschichte des liberalen Westens charakterisieren oder dass man in Richtung “marxistische” Vulgata abdriftet, die die rule of law, die Regeln der Machteinschränkung und die “formelle” Freiheit für irrelevant hält: beide Alternativen sind katastrophal.

Ohne die Dialektik ist es unmöglich, sich in der Welt, in der wir leben, zu orientieren. Man denke an die Konflikte, die sich auf dem Terrain der Globalisierung, der Begegnung und des Zusammenstoßes zwischen den verschiedenen Kulturen ergeben und an die Debatte über Relativismus und Universalismus. Wer von demokratischen und pazifistischen Positionen aus und gewillt, sich den Kriegen (und Kreuzzügen) entgegenzustellen, die im Namen der universellen zivilisatorischen Mission des Westens und seiner Führungsmacht geführt werden, sich zum Relativismus bekennt, begibt sich in Wirklichkeit in eine Sackgasse. Wenn alle Propositionen und alle Kulturen gleichwertig sind, gibt es keinen Grund, die Ideologien des Imperialismus und eine Kultur, die von dem Drang nach Expansion, nach Krieg und Unterjochung gekennzeichnet ist, negativ zu diskriminieren.

Auf der Gegenseite sehen wir, dass vor allem in den Vereinigten Staaten der Universalismus à la Leo Strauss Schule macht. Dieser verdammt zwar den Relativismus, da dieser auch den Kannibalismus rechtfertigen könne, aber er ignoriert, dass im Namen des Kampfs gegen den Kannibalismus das stattfand, was von Todorov der "größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit" genannt wurde. Aber auch abgesehen von der Vernichtung der Indianer ist die ganze Geschichte des Kolonialismus mit seinen Schrecken gekennzeichnet von der Anmaßung, universelle, zweifelsfreie und jeglichem Nagen des Relativismus entzogene Wahrheiten in aller Welt zu verbreiten.

Aber die Positionen von Strauss zu entwerten, ist eine noch schwerwiegendere Grenze. Wie er ausdrücklich zugibt, verkörpert sich der von ihm geforderte Universalismus im „Geist des Westens“. Das so schon sehr begrenzte Gebiet der authentischen Zivilisation und der Universalität wird noch weiter eingeschränkt: Strauss präzisiert, dass es sich "insbesondere um den angelsächsischen Westen" handle. Damit schließlich niemand mehr Zweifel habe, klärt er, dass er vor allem "die amerikanische Erfahrung" feiern will und unterstreicht dabei "den Unterschied zwischen einer Nation, die in Freiheit entworfen wurde und sich dem Grundsatz geweiht hat, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, und den Nationen des alten Kontinents, die gewiss nicht in Freiheit entworfen wurden. Wie man sieht, gibt es auf dem hier umrissenen Bild keinen Platz für das von der herrschenden Klasse den Kolonialvölkern oder den Völkern kolonialen Ursprungs vorenthaltene Schicksal. Bei näherem Hinsehen erweist sich der "Universalismus" von Strauss als der bloß wiederaufgewärmte Gründungsmythos, der seit jeher die Geschichte der Vereinigten Staaten begleitet: gefeiert als die "Stadt auf dem Hügel", die der ganzen Welt als Beispiel dienen soll, als das Land, dem die Vorsehung offensichtlich ein günstiges Schicksal bestimmt hat und das sich, ohne irgendeinen Widerspruch zu der in seinem Inneren florierenden Sklaverei zu spüren, dazu berufen fühlt, "ein Reich der Freiheit" zu schaffen, "wie es von der Schöpfung bis heute noch nie gesehen wurde" (so Jefferson, ein Sklavenhalter, in einem Brief an Madison, einem anderen Sklavenhalter, vom 27. April 1809). Es verwundert deshalb nicht, dass Leo Strauss der Philosoph wurde, auf den sich die heutigen Neokonservativen berufen, die mit Waffengewalt die planetarische Mission der von Gott "auserwählten Nation" zu verwirklichen suchen.

Mit Hegel können wir sagen, dass der "Universalismus" von Strauss nicht "die edelste Seite des Skeptizismus" kennt, die "der Richtung gegen den Dogmatismus des gemeinen Bewusstseins". Auf diese Weise schlägt der Universalismus in Wirklichkeit in "gemeinen Empirismus" oder "absoluten Empirismus" um. (Werke in zwanzig Bänden, II, 249f u. 403; III, 184) Dieses Umschlagen findet genau dann statt, wenn "die Absolutheit, die in dem Satz seiner Form nach ist", unausgesprochen auf einen bestimmten empirischen Inhalt übertragen wird, der so die Würde des Absoluten verliehen bekommt. Immer mit Hegel könnte man sagen: die heutigen Relativisten und die Universalisten à la Strauss kennen "nur skeptisches und dogmatisches Philosophieren" und ignorieren "ein Drittes" zwischen "Skeptizismus" und "Dogmatismus", jenes Dritte, in welchem eigentlich das Philosophieren besteht. (Werke in zwanzig Bänden, II, 217 u. 230).

Erneut wird man sich der Notwendigkeit der Dialektik gewahr. Ohne sie haben wir auf der einen Seite eine Apologetik, die als Kriegsideologie auftritt, auf der anderen eine summarische Ablehnung, die letztendlich mit Fundamentalismus gleichbedeutend ist. Gerne erinnere ich hier an eine Definition Lenins: "Die Dialektik schließt in sich, wie schon Hegel erläutert, ein Moment des Relativismus, der Negation, des Skeptizismus ein, aber sie reduziert sich nicht auf den Relativismus." (Lenin, Werke, XIV, 131f.)

AA: Es sind im Grunde genommen mehrere, wenn auch sehr eng zusammengehörige Fragen, die Sie gestellt haben.
Zunächst: der Vorwurf des Totalitarismus, der gegen Hegel erhoben wird, ist schlicht dumm, denn die philosophische Kategorie der Totalität hat mit dem politischen Totalitarismus gar nichts zu tun. Im Gegenteil: beides schließt einander aus. Jeder politische Totalitarismus ist in Wahrheit Partikularismus, denn er beruht auf Ausgrenzung und Unterdrückung. Philosophisch aber kann das Totum, das Ganze, gar nicht als etwas gedacht werden, das Anderes ausgrenzt. Es wäre dann nicht das Totum. Die Kategorie der Totalität hat, anders als die Antihegelianer meinen, geradezu eine kritische Funktion gegenüber jeder Form des totalitären Denkens. Sie zwingt dazu, das zu bedenken und einzubeziehen, was ausgegrenzt, verdrängt und unterdrückt wird. Sie läßt keine Grenzziehung gelten, sie sprengt jede Borniertheit. Georg Lukács hat dies sehr klar gesehen, als er in Geschichte und Klassenbewußtsein die Kategorie der Totalität zur zentralen Kategorie einer kritisch und revolutionär verstandenen Dialektik erklärte.

Sodann, und damit komme ich auf Adorno: Hegel denkt das Ganze als in sich konkrete Allgemeinheit. Das heißt: es ist ein in sich gegliedertes, organisches Ganzes von Momenten, die nicht unter ein herrschendes „Zentrum“ subsumiert sind. Wahr ist etwas nur, sofern es nicht mehr abstrakt – und das heißt für Hegel: einseitig – ist; Herrschaft indessen ist abstrakt, sofern sie das Beherrschte gerade nicht in seiner Eigenständigkeit und Freiheit gelten läßt. Der Gedanke der konkreten Allgemeinheit enthält also so etwas wie einen utopischen Überschuß über das Gegebene hinaus: den Gedanken einer herrschaftsfreien Struktur. Wenn Adorno kurz und knapp dagegen setzt, das Ganze sei das Unwahre, dann meint er damit zunächst nicht mehr, als daß die bestehende gesellschaftlich-politische Wirklichkeit dem nicht entspricht, was Hegel als das höchste Allgemeine, das Absolute, dachte. Man kann und muß natürlich fragen, ob das nicht kurzschlüssig ist. Hegel wußte ja, wie bereits gesagt, sehr wohl zwischen dem Begriff der Freiheit und der Realisierung von Freiheit zu unterscheiden. Allerdings war er dabei der Auffassung, daß der Begriff die wahre Wirklichkeit sei und die bloße Faktizität ihm auf Dauer keinen Widerstand leisten könne. Adorno teilt diesen Optimismus nicht, und er hat dafür gute Gründe in den Erfahrungen seiner Zeit, die seine Philosophie in Gedanken faßte. Zugleich aber weiß Adorno auch um die kritische Funktion des Absoluten; er hat dies in seinen Minima Moralia (Frankfurt/M 1970, S. 166f.; „Drei Schritt vom Leibe“) dargelegt. Für ihn ist der Begriff des Absoluten ein Reflexionsbegriff, d. h.: er ist nicht für sich zu stellen und zu einer metaphysischen Hinterwelt zu substantiieren, sondern er ist untrennbar gekoppelt an das Endliche oder Relative, dessen Negation er ist. Der Bezug auf das Absolute hat eine kritische Funktion. Er negiert gewohnte Sichtweisen und Grenzziehungen, indem er einen Wechsel der Perspektive erzwingt und das als Schein erweist, was scheinbar das Sicherste war. – Adorno jedenfalls gehört nicht in die Reihe der Hegel-Kritiker, die von der Totalität auf Totalitarismus kurzschließen.

Schließlich zur Dialektik. Ich stimme sofort zu, daß die Angriffe der Hegel-Kritiker natürlich vor allem das Konzept der Dialektik im Auge haben; das ist bei Popper evident, der die Dialektik als logischen Unsinn ansieht und für Beliebigkeit und Willkür im Denken verantwortlich macht. Bei Adorno liegt der Fall anders, denn er will ja die Dialektik nicht verleugnen, sondern ihren negativ-kritischen Charakter hervorheben, weil er der affirmativen Seite des Hegelschen Denkens nicht folgen kann. Tatsächlich beharrt Hegel ja auch immer wieder darauf, daß die Dialektik nicht nur ein negatives Resultat, eine negative Seite habe. Dies sei eine falsche Ansicht, die von der Antike (auch Platon wird hierfür von Hegel kritisiert) bis hin zu Kant reiche, dessen transzendentale Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft ja zum Resultat habe, dass man das Absolute nicht erkennen könne, sondern die Vernunft wiederum auf die Mittel des Verstandes zurückgeworfen werde. Dies ist für Kant deshalb der Fall, weil die Vernunft, die das Unbedingte oder Absolute zu denken versucht, sich unvermeidlich in dialektische Oppositionen, wie Kant sie nennt – Hegel spricht abkürzend meistens von Antinomien –, verwickelt. Das Unbedingte – das ist für Kant die Totalität der Bedingungen oder des Bedingten; auch für ihn ist die Dialektik ein totalisierendes Verfahren, das notwendig und unvermeidlich ist, um das Bedingende des Verstandes zu erfassen und ihn dadurch zu begründen und mit sich in Übereinstimmung zu bringen. Hegel übernimmt das von Kant und ebenso die Auffassung, daß die Vernunft sich notwendig in Widersprüche verwickle. Dies gilt für Hegel freilich für alle „Dinge“ und nicht nur in Ansehung der Vernunftgegenstände (Gott, Welt, Seele), wie bei Kant.

Man kann das, was Dialektik im Hegelschen Sinn ist, vielleicht in folgenden Punkten zusammenfassen: (1) Hegels Konzeption verknüpft Totalitäts- und Widerspruchsdenken, indem er – mit Spinoza, genauer: mit Jacobis Spinoza-Deutung – Bestimmtheit als Negation, und zwar als Negation alles Anderen zu dieser Bestimmtheit denkt, das durch eben diese Bestimmtheit ausgeschlossen wird. Um etwas in seiner Bestimmtheit zu denken, muß ich es in seiner negativen Beziehung auf Anderes denken – ein Anderes, das seinerseits die Bestimmtheit negiert, und diese Beziehung und damnit die Negation nicht nur des Anderen sondern auch ihrer selbst durch das Andere ist wesentlicher Bestandteil der Bestimmtheit selbst. Dieses Konzept zwingt dazu, jede vermeintlich mit sich selbst identische Bestimmtheit als daseienden Widerspruch zu deuten und erzwingt zugleich den Übergang zur Totalität der Bestimmtheiten. (2) Indem nicht die Identität, sondern der Widerspruch das Fundament aller Bestimmtheit bildet, ist zugleich der Vorstellung einer mit sich identischen Entität, eines Subjekts als Träger von Bestimmungen, der Boden entzogen. Das, was in Wahrheit ist, sind nicht Dinge, sondern Verhältnisse, Totalität als ein Netz von Relationen. (3) Dieses Netz ist für Hegel begrifflicher Natur, d.h. es geht aus einer Dialektik als Selbstvermittlung der Denkbestimmungen zur Totalität hervor, die zugleich Selbsterfassung des Begriffs ist. Diese kulminiert in dem Selbstbewußtsein des vollendeten Begriffs, der sich schließlich als dialektische Methode bestimmt. (4) Die dialektische Methode vermittelt Voraussetzungen, Momente und Resultate des Werdens zur Totalität. Sie ist daher Logik des Werdens dieser Totalität sowohl im Sinne der (historischen) Genesis als auch ihrer internen Reproduktion.

Damit ist aber die dialektische Methode jedoch noch nicht zureichend bestimmt. Was Hegel unter Methode versteht, ergibt sich aus seinem Systembegriff, der sich wiederum kritisch an Kant orientiert. Kant hatte Systematizität als Leistung der Methode verstanden und zugleich die Auffassung vertreten, daß die Vernunft selbst systematisch sei. Hegel kritisiert, daß Kant gleichwohl die Methode als ein (äußerliches) Instrument des Erkennens verstehe. Ihm zufolge müssen Methode und Inhalt identisch sein, weil die Struktur der Vernunft – letztlich der Begriff – zugleich die Struktur der Realität sei. Die Wissenschaft der Logik ist die Selbstentfaltung der inneren Systematik der Vernunft; sie kulminiert in der absoluten Idee als absolute Methode, wobei unter Methode „das Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts“ verstanden wird. Die Methode ist, Hegel zufolge, nichts anderes als die Sache selbst, um die es zu tun ist, und nicht ein Instrument, um die Sache überhaupt erst erfassen zu können. In den Ausführungen zur absoluten Idee als absoluter Methode möchte er zeigen, dass und wie „der Inhalt des Erkennens als solcher“ in die methodische Betrachtung eintritt, wodurch sich die Methode zum System erweitert.

Die dialektische Methode ist für Hegel zwar auch ein Instrument des Erkennens: die Wissenschaft der Logik insgesamt muss sich in den Realwissenschaften – der Natur- und Geistesphilosophie – „bewähren“, aber die dialektische Methode ist kein ihrem Gegenstand äußerlich bleibendes Instrument. Hegel unterscheidet sie dadurch vom instrumentellen oder, wie er auch sagt, „suchenden Erkennen“. Hier liegt, so meine ich, die eigentliche Schwierigkeit. Was heißt es, daß die Methode sich „bewährt“? Bleiben damit die Bestimmungen der Methode (und letztlich der Wissenschaft der Logik insgesamt) unverändert? Oder ist die „Bewährung“ der Methode in den Realwissenschaften doch die Beziehung auf ein zunächst äußerliches Material? Wir wissen, wie problematisch das Verhältnis von Logik und Realphilosophie bei Hegel ist. Dies betrifft nicht nur den Schluß der Logik, wo sich die Idee „entschließt“, sich in die Äußerlichkeit der Natur zu entlassen. Es betrifft auch die Realphilosophie selbst, wie Hegels ständige Umarbeitungen in seinen Vorlesungen zeigen. Anders gesagt: das vollständig durchgeführte Hegelsche System, das überhaupt erst die Einheit von Methode und Inhalt rechtfertigen könnte, die Hegels Kritik des „suchendenb Erkennens“ zugrundeliegt, gibt es bei Hegel gar nicht. Und darum bleibt Hegels Methodenverständnis problematisch. Ganz abgesehen davon, ob Hegels Darlegungen zur Methode überhaupt auch nur die Komplexität der Wissenschaft der Logik selbst einholen können; ich denke vielmehr, die ausdrückliche Reflexion der Methode im Schlussteil der Logik bleibt gegenüber dem Gang der Logik selbst unterbestimmt.

Friedrich Engels hat, anderen geläufigen Hegel-Kritiken seiner Zeit folgend, zwischen Methode und System bei Hegel unterschieden und die dialektische Methode dem angeblich starren System entgegengesetzt. Ich glaube, daß dies zu weit geht. Marx etwa hat ja durchaus an dem Systemgedanken festgehalten und die kapitalistische Produktionsweise als System rekonstruiert. Er hat dabei allerdings ein anderes Verständnis von System zugrundegelegt, indem er (was Engels übrigens anders sieht) Logisches und Historisches nicht identifiziert. Das System beruht immer auf äußerlichen Voraussetzungen, die es vorfindet und mit sich fortschleppt; es behält somit eine konstitutive Äußerlichkeit. Damit ändert sich auch der Begriff der Totalität: Totalität ist dann immer historisch bestimmt und endlich. Und hiervon bleibt selbstverständlich das Methodenverständnis nicht unberührt: die Methode hat dann einen Inhalt, für den die Äußerlichkeit konstitutiv ist, sie muß also diese Äußerlichkeit in ihren eigenen Begriff aufnehmen, d. h.: sich als „suchendes Erkennen“ neu bestimmen, ohne sich nur äußerlich zu ihrem Inhalt zu verhalten, denn diese Äußerlichkeit ist ja zugleich Form ihres Inhalts. Die Methode wird darin zu einem Mittel, welches das Allgemeine unserer Erkenntnisarbeit repräsentiert, nämlich das kategoriale Netz, in dem die „Welt“ unserem Begreifen zugänglich wird. Der Begriff des Systems selbst wäre dabei Moment eines suchenden Erkennens, das in theoretischer und praktischer Hinsicht nach seinem Realitätsgehalt fragt.

Hiermit ist ein Forschungsprojekt angedeutet und kein gesichertes Methodenverständnis referiert. Marx hat bekanntlich seine geplante Abhandlung über die dialektische Methode nicht geschrieben, und es gibt bis heute kaum eine adäquate Darstellung dessen, was Dialektische Methode nach Hegel (und Marx) heißen könnte.

DG: Sie beide deuten an, dass man sich in der heutigen Welt voller Widersprüche ohne Dialektik nicht orientieren kann. Ebenfalls haben Sie die Bedetung der Dialektik für die Emanzipation der Ausgegrenzten hervorgehoben. Hegel selbst hat in der Wissenschaft der Logik darauf hingewiesen, dass die Schwierigkeit darin bestehe, dass man die Entitäten nicht als Einheit der Gegensätze denkt. Damit spielt er nicht nur auf den Alltagsverstand bzw. auf das verständige Denken, sondern er verweist auch auf die ganze philosophische Tradition in der Neuzeit. Damit wird der Umfang der philosophischen Revolution deutlich, die Hegel anstrebt. Ich möchte, das was Sie bisher über Hegel als Philosoph der Freiheit gesagt haben auf eine andre Ebene herunter brechen. Die Konzeption der Subjektivität ist ein zentrales Element der Philosophie der Neuzeit und Moderne. Bereits in dem ersten Absatz der Phänomenologie des Geistes erklärt Hegel, dass er, was bisher einfach als gegeben vorausgesetzt, als absolut angenommen wurde, nämlich das Ich, also das Subjekt, als Prozess des Werdens darstellen will. Hegel unternimmt dabei eine weitere Umkehrung in der philosophischen Tradition seit Descartes. Er fängt nämlich nicht mit einem Ich, sondern mit zwei Ichs an. Das heißt für Hegel, dass die Subjektivität gleichzeitig Intersubjektivität ist, was kaum beachtet wird. In der Rechtsphilosophie hat Hegel ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Freiheit des Ichs die Freiheit des Andren einschließe, also kann das Ich ohne die Freiheit des Andren gar nicht frei sein. Genau hat dieses Vorgehen Hegels ihm all die Vorwürfe eingebracht, mit denen wir vor allem in der analytischen Philosophie konfrontiert werden: Hegel unterminiere damit das Konzept des Individuums. Die Frage wäre folglich: Vernachlässigt die Hegelsche Philosophie das Individuum und ist sie damit Individuum feindlich?

AA: Zunächst einmal wäre zu klären, was die Kritiker Hegels mit „Individuum“/“Individualität“ meinen. Oft ist es ja so, dass damit ein Gegensatz gegen das Allgemeine bezeichnet wird, und zwar ein Gegensatz, der zum Ausdruck bringen soll, dass es so etwas wie einen unverfügbaren Kern der Individualität gebe. Individuum est ineffabile, das Individuum ist unaussprechlich, also nicht in Begriffe zu fassen, war ein Motto der Lebensphilosophie. Mit anderen Worten: Individualität beruhe auf einer Unmittelbarkeit, einem nicht vermittelten und nicht vermittelbaren Identitätskern. Einen solchen Begriff von Individualität hat Hegel in der Tat nicht.

Ich glaube auch nicht, dass es in diesem Zusammenhang hilfreich ist, bei Hegel „Intersubjektivität“ entdecken zu wollen. Intersubjektivität meint, daß eine soziale Realität im Wechselverhältnis von Individuen konstituiert wird, die dabei ihre Subjektivitäten / Individualitäten darstellen und austauschen. Hinter dem Konzept der Intersubjektivität steht letztlich das emphatische Konzept der Individualität.

Hegel geht mit seinem Geist-Konzept weiter. Im Unterschied zu den genannten Positionen sind Individuen für ihn ganz und gar vermittelt, und zwar nicht nur durch andere Individuen in der Intersubjektivität, sondern durch die vorgefundenen und selbstgeschaffenen Bedingungen, unter denen sie agieren: natürliche und gesellschaftliche Bedingungen. Hegel kennt kein unmittelbares Selbstbewußtsein auf der Ebene des subjektiven Geistes, die mit der Ebene der Individualität vergleichbar ist; für Hegel ist alles Lebendige – auch das Individuum – durch einen Widerspruch konstituiert und nicht durch einen Identitätskern. Das emphatische Konzept des Individuums gehörte aus seiner Sicht in die Verstandesmetaphysik.

Auf der anderen Seite jedoch gibt es bei Hegel eine Aufwertung des Individuums, von der die Kritiker gewöhnlich nichts wissen. In den Rechtsverhältnissen geht es Hegel z.B. gerade darum, das Recht der Besonderheit der Individuen zur Geltung zu bringen, das er uneingeschränkt anerkennt und das für ihn zum Begriff der Freiheit gehört. Und auf der Ebene des philosophischen Denkens sind es immer die menschlichen Individuen, die das Sich-Wissen des (überindividuellen) Geistes von sich vollziehen. Der Geist kommt zum Bewusstsein seiner selbst nur durch das Denken der Individuen und in ihnen.

Weder vernachlässigt Hegel das Konzept des Individuums noch ist er der Individualität gegenüber feindlich gesinnt; er hat, so würde ich sagen, lediglich ein realistisches, nicht emphatisches Konzept von Individualität.

DL: Die zentrale Bedeutung der Figur des Individuums bei Hegel steht außer Zweifel: “Die selbständige Entwicklung der Besonderheit” und das Eindringen des “Prinzips der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit” sind ein wesentliches Moment der Moderne (RPH., § 185 A). Wie ich aber zu erklären versucht habe, ist die Figur des Individuums, in seiner Allgemeinheit verstanden, kein unmittelbares Faktum, sondern das Ergebnis eines gigantischen historischen Prozesses, in dessen Mittelpunkt der vom Knecht geführte Kampf um dieAnerkennung steht, der Knecht, der vom Herrn auf ein bloßes Arbeitsinstrument reduziert wird und dem damit seine menschliche Würde und seine Individualität entzogen werden. Der Hegelsche Ansatz zu diesem Problem hat wichtige Folgen. In erster Linie sind wir auf die Sphäre der Intersubjektivität verwiesen. In zweiter Linie ist festzustellen, dass der Protagonist des Kampfes um die Anerkennung und damit der Konstruktion der Figur des Individuums in seiner Allgemeinheit der Knecht ist und nicht sein Herr. Im Übrigen endet der Kampf um die Anerkennung nicht mit der Abschaffung der Sklaverei im eigentlichen Sinn; das haben wir schon gesehen: derjenige, der Hunger leidet und den Hungertod riskiert, erfährt eine “totale Rechtlosigkeit”; anders gesagt, hat er noch nicht die Anerkennung als selbstständiges Individuum erreicht, das eine selbstständige Würde besitzt. Der Verweis auf die Figur des Individuums, der in der liberalen Tradition (trotz der lang andauernden Sklaverei im eigentlichen Sinn und des Beharrens von Formen der Knechtschaft der Volksklassen) oft die Selbstverherrlichung der bestehenden Gesellschaft ist, wird jetzt zu einem Kampfprogramm.

Gerade deshalb kann Hegel die ideologische Form kritisieren, die die Glorifizierung des Individuums annehmen kann. Schon zu Lebenszeiten wird der Philosoph z. B. von Friedrich J. Stahl kritisiert, weil er die soziale Frage nicht mit der “Carität”, die nur in dem warmen Verhältnis “von Person zu Person”, zwischen Individuum und Individuum stattfindet, lösen will, sondern mit dem Rekurs auf die kalte Objektivität der juridischen Norm. Auf diese Anklage antworten die Grundlinien der Philosophie de Rechts ( § 242) mit großer Deutlichkeit: “So geht das Streben der Gesellschaft dahin, in der Notdurft und ihrer Abhilfe das Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten und jene Hilfe entbehrlicher zu machen”, die das Zufällige des wohltätigen Individuums bedeutet. Es stimmt, “der öffentliche Zustand ist (…) für um so vollkommener zu achten, je weniger dem Individuum für sich nach seine besonderen Meinung, in Vergleich mit dem, was auf allgemeine Weise veranstaltet ist, zu tun übrigbleibt”. Gestern wie heute verurteilt der Konservatismus den Sozialstaat als Unterdrücker des Individuums, aber Hegel hat einen wesentlichen Punkt klar gemacht: eine Menschenmasse zur Armut zu verurteilen, in Erwartung einer Wohltätigkeit, die auch ausbleiben kann, bedeutet ihre Individualität mit Füßen zu treten und ihr weiterhin die Anerkennung abzusprechen.

Zuletzt ist die Hegelsche Theorie von der Individualität auch auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen von großer Bedeutung. Der Staat ist eine “Individualität” und in den Beziehungen, die ein Individuum als “ausschließliches Für-sich-sein” zu den anderen Individuen unterhält, ist die Möglichkeit (die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit) des Konflikts implizit (Rph., § 322). Gewiss können wir eine Integration zwischen mehr oder weniger homogenen Ländern hypothetisch annehmen, als Ergebnis eines langen, mühsamen Prozesses und jedenfalls immer der Möglichkeit eines Debakels ausgesetzt: das ist das, was in Europa stattfindet. Und wir können uns außerdem einen Organismus vorstellen, der die ganze Menschheit umfasst und der die Koexistenz, das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ländern und den verschiedenen Individuen, die die Staaten sind, fördert, wobei versucht werden muss, den permanenten Naturzustand, der die internationalen Beziehungen charakterisiert, zu regulieren bzw. schrittweise zu überwinden: das ist, zumindest theoretisch, die Aufgabe der UNO. Aber daran denken, dass ein Land oder ein Volk auf Grund äusseren Zwangs oder kraft des Gesetzes des Stärkeren ohne weiteres auf seine Selbstständigkeit verzichten kann, bedeutet, nichts zu verstehen “von der Natur einer Gesamtheit und dem Selbstgefühl, das ein Volk in seiner Unabhängigkeit hat”, eine Bedingung, die als “die erste Freiheit und die höchste Ehre eines Volkes” wahrgenommen wird (Rph., § 322 u. 322A). Anders ausgedrückt, kann Protagonist des Kampfes um die Anerkennung nicht nur das Individuum im eigentlichen Sinn sein, sondern auch das Individuum, das der Staat ist bzw. das Volk, das danach strebt, sich als Staat zu konstituieren.

Hegels Theorie von der Individualität ist wesentlich für das Verständnis der zwei großen Kämpfe um die Anerkennung, die eine zentrale Rolle in der zeitgenössischen Geschichte gespielt haben und noch heute von erstrangiger Bedeutung sind.

DG: Hegel selbst hat seine Philosophie in eine bestimmte Tradition gestellt. Im engeren Sinn des Wortes ist das die klassische deutsche Philosophie, die wie keine andere philosophische Tradition die dialektische Philosophie in der Neuzeit und Moderne gepflegt hat. Das Verhältnis der Hegelschen Philosophie zu denen seiner Vorläufer war schon immer Gegenstand kontroverse Debatten. Wilhelm Raimund Beyer hat in diesem Zusammenhang davor gewarnt, in den gängigen Dualismus z. B. von ‚entweder Kant oder Hegel’ zu fallen. Man müsse die klassische deutsche Philosophie als ein Prozess verstehen, dessen Höhepunkt und Abschluss die Hegelsche Philosophie darstelle. Ein Prozess zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass er Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufweist. Worin bestehen nun die wesentlichsten Kontinuitäten und Diskontinuitäten, wenn wir die Hegelsche Philosophie bspw. in Verhältnis setzen zu der Kantschen Philosophie? Kant definiert sich in der Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich in der Tradition von Descartes, wenn ich dabei ein Stichwort geben darf.

DL: Mit verschiedenen und vielleicht entgegengesetzten Ansätzen kann man sich dem Bildungsprozess eines Autors nähern. Man kann sich auf die Lektüre und auf die Texte konzentrieren, die ihn beeinflusst haben. Das Resultat ist vage tautologisch: man entdeckt dabei, dass ein bestimmter Autor in einer bestimmten Zeit von der Kultur seiner Zeit beeinflusst worden ist. Außerdem handelt es sich um ein streng genommen eingeschränktes Vorgehen, das darauf hinausläuft, großenteils das Neue auf das Alte zurückzuführen.

Die Rede vom Einfluss eines Autors auf einen anderen hat den weiteren Nachteil, dass sie an eine bloß individuelle Beziehung zwischen den beiden, an einen Dialog denken lässt, der sich nicht in einem konkreten historischen Kontext, sondern vielmehr in einem akademischen und politisch keimfreien Raum abspielt. Ist dieser Ansatz ganz allgemein fragwürdig und steril, so erscheint er völlig sinnlos für einen so stark politischen Autor wie Hegel, dessen Konfrontation mit Autoren wie Kant, Fichte, Schelling immer von der historischen Bilanz der eigenen Epoche vermittelt ist (die Industrierevolution und die französische Revolution, der postthermidorianische Expansionismus Frankreichs, die napoleonische Okkupation Deutschlands, der Anbruch und die Krise der Restauration usw.)

Keinen Sinn hat es, Hegel in die idealistischen deutschen Philosophen zu zerlegen deren Lektüre er sich zunutze gemacht oder in die verschiedenen und gegensätzlichen Einflüsse, die Spinoza einerseits und Fichte andererseits auf sein System ausgeübt haben. Auf Grund dieses Ansatzes könnte der Autor der Kritik der reinen Vernunft noch weiter in die philosophischen Richtungen –Rationalismus und Empirismus - zergliedert werden, die in seinem Hintergrund agieren. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens ist paradox: Nihil sub sole novi! Die Neuheiten und die qualitativen Sprünge, die epistemologischen Brüche, die neuen Kategorien, alles das ist aus der Geschichte des Denkens verschwunden, weil in Wahrheit gerade die historische Zeit mit ihren Widersprüchen verschwunden ist, die sich unaufhörlich erneuern und eine immer historisch determinierte Gestalt annehmen und neue Antworten fordern bzw. stimulieren.

Nach dieser methodologischen Vorbemerkung würde ich das Verhältnis von Kontinuitäts-Diskontinuität synthetisch folgendermaßen zusammenfassen, das Kant und Hegel verbindet: der Erste erlebt die Krise des Ancien Régime, die in die französische Revolution gemündet ist; der Zweite geht gerade von dieser historischen Wende aus, um über die Widersprüche und die Konflikte nachzudenken, die auf innerer und internationaler Ebene den revolutionären Prozess und den Aufbau der neuen politisch-sozialen Ordnung kennzeichnen. Beiden Philosophen gemeinsam ist die zentrale Rolle der Kategorie Allgemeinheit.

Um sich dessen bewusst zu werden, genügt es z. B., die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aufzuschlagen und sich jene berühmte Stelle vorzunehmen, die die erste Formulierung des ‘kategorischen Imperativs’ enthält: “Handle jederzeit nach diejenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetz du sogleich wollen kannst”. Im gleichen Zusammenhang spricht dann die Kritik der praktischen Vernunft (§ 7) von “allgemeiner Gesetzgebung”. Allgemein, Allgemeinheit: eine Kategorie, die politisch betrachtet alles andere als harmlos ist. Die “strenge Allgemeinheit” – das ist die Kategorie, mit der wir es sowohl in der Wissenschaft als auch bei der Moral zu tun haben – ist dergestalt, dass sie von vorneherein “gar keine Ausnahme als möglich verstattet”. Wie sollte man nicht das antifeudale Pathos wahrnehmen, das diese “Allgemeinheit ohne Ausnahme” durchströmt! Schon im Jahre 1772 hatte einer der intelligentesten konservativen Theoretiker, Justus Möser, bereits im Titel eines seiner Werke gegen den “Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen” polemisiert. Mit Recht hat Mannheim festgestellt, dass die Ablehnung der Kategorie der Allgemeinheit “aus den Wollungen des ständischen Denkens fließt” (vgl. hierzu, Domenico Losurdo, Immanuel Kant – Freiheit, Recht und Revolution, Pahl-Rugenstein, Köln 1987, Einleitung).

Später wird Hegel schreiben: „Das Prinzip der allgemeinen Grundsätze befestigte sich in dem französischen Volk und brachte dort die Revolution hervor” (G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. von G. Lasson, Meiner, Leipzig 1919-20, S. 919-20). Die Debatte pro und contra das Ancien Régime, pro und contra die französische Revolution dreht sich um eine zentrale Kategorie des Kantischen Denkens. Nicht umsonst spricht Hegel vom “Prinzip der Allgemeinheit und Gleichheit” (G.W.F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (1802-1803), in Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Suhrkamp, Frankfurt a. M., Bd. 2, S. 491).

Hegel hat jedoch tief über den Jakobinischen Terror nachgedacht, der sowohl wegen der objektiven Lage (Bürgerkrieg und Invasion der konterrevolutionären Mächte) als auch wegen der ideologischen Schwäche vor allem der Anarchoströmungen wütet, die dazu neigen, nach Verrat und Skandal wegen der Kontamination der Reinheit des Allgemeinen zu schreien, jedes Mal wenn dieses versucht, sich einen konkreten Inhalt zu geben. Nicht weniger tief hat Hegel über den napoleonischen Expansionismus nachgedacht, der auf europäischer Ebene dem Feudalsystem vernichtende Schläge versetzt, der aber diese Resultate durch einen Expansionismus erzielt, der die Besonderheit und die nationale und religiöse Individualität der Völker nicht berücksichtigt und deshalb unvermeidlich und gerechterweise die Revolte der unterdrückten Völker hervorruft. Wenn das Kantische Pathos der Allgemeinheit den Sturz des Ancien Régime leiten kann, so ist für die Errichtung der neuen Ordnung eine Allgemeinheit vonnöten, der es gelingt, die Bestimmtheit und die Besonderheit zu subsumieren. Die Lehre Hegels scheint mir auch in Bezug auf das mit der Oktoberrevolution begonnene historische Geschehen gültig und aktuell zu sein.

AA: Hegel stellt sich, wie auch aus seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie deutlich wird, in die Tradition der neueren Philosophie; diese sei der heimische Boden auch für Hegels eigene Philosophie. Diese Bindung an die philosophische Moderne hängt damit zusammen, dass Hegel überhaupt auf dem Standpunkt der Moderne steht, die mit dem Gedanken der Subjektivität und – in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht – dem Konzept der Person verbunden ist. Nun darf man sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hegel diese Tradition nicht unkritisch aufnimmt, sondern erheblich modifiziert. Der Begriff der Person ist davon am wenigsten betroffen; er ist grundlegend für die Rechtsphilosophie; aus ihm folgt das Recht der Besonderheit ebenso wie das Recht, ungeachtet aller Besonderheiten zunächst als Mensch zu gelten, d.h. das Menschenrecht. Die Subjektivität bekommt bei Hegel eine eigene Bedeutung dadurch, dass er in seiner Geistesphilosophie zwischen der Subjektivität im Sinne des subjektiven Geistes einerseits und einer überindividuellen und schließlich absoluten Subjektivität andererseits unterscheidet. Letztere sind Subjektivität dadurch, dass sie selbstbezüglich strukturiert sind; Hegel folgt damit seiner früheren Unterscheidung von mentaler (bloß subjektiver) und objektiver Reflexion. Das ist eine erhebliche Verschiebung gegenüber der Tradition von Descartes bis Kant. Die Vorstellung des Subjekts – auch des transzendentalen Subjekts – nach dem Vorbild der uns vertrauten menschlichen Subjektivität wird ersetzt durch den Begriff einer prozessierenden, selbstbezüglichen Totalität. Mehr noch: indem das individuelle Subjekt als Moment dieser Totalitäten begriffen wird, ist es selbst von den Bestimmungen dieser Totalität geprägt. Hegels Subjektparadigma führt zur Dekonstruktion der traditionellen Vorstellung von Subjektivität. Aus der Sicht dieser Vorstellung könnte man daher auch sagen: Hegel beschreibt subjektlose Prozesse.

Damit ist die gestellte Frage natürlich noch nicht erschöpft, und ich möchte auch gar nicht erst versuchen, den Eindruck einer erschöpfenden Antwort zu erwecken, für die ich mehrere Abhandlungen brauchte. Generell aber lässt sich über Hegels Verhältnis zur Tradition sagen, dass er deren Begriffe, indem er sie aufnimmt, systematisch aufeinander bezieht und dadurch verändert, denn jede Bestimmtheit ist nur durch die Beziehung auf Anderes. Die Diskontinuitäten und Brüche sind daher ein notwendiger Effekt der dialektischen Methode Hegels.

DG: Wie jedes großes philosophisches System war auch das Hegelsche System Gegenstand großer Auseinandersetzungen. Ich meine nicht so sehr jene frontalen an der Zerstörung interessierten Angriffe auf das Hegelsche System, die fast ohne Ausnahme alle in der Philosophiegeschichte wirkungslos geblieben sind. Ich meine vielmehr jene, die mit dem Anspruch auftreten, trotz aller Kritik, die Hegelsche Philosophie hinüber retten zu wollen und folglich sich in einer oder anderer Form als Erbe der Hegelschen Philosophie verstehen. Der Kampf zwischen den Jung- und Althegelianern, dann die Auseinandersetzung unter den Junghegelianern selbst; die Neuhegelianer und die Marxisten, die Marxisten und Pragmatiker, die Gadamer-Schule und Marxisten; sie alle verstanden und verstehen sich als Erbe der Hegelschen Philosophie. Heute tobt, man möchte fast sagen, ein ‚Krieg’ zwischen den Marxisten und Heideggerianern um die Frage, wie Hegel zu interpretieren sei. Gibt es aus Ihrer Sicht objektive Kriterien, an denen man messen kann, wer nun berechtigt ist, das Erbe der Hegelschen Philosophie anzutreten? Gibt es in diesem Zusammenhang Bereiche der Hegelschen Philosophie, die noch nicht oder nur sehr wenig erforscht sind, die aber für die gegenwärtigen Fragen der Philosophie und Probleme der Gesellschaft fruchtbar gemacht werden könnten?

AA: Die Geschichte des Hegelianismus ist zugleich die Geschichte der Hegel-Kritik; es gibt keine Aneignung Hegels, die nicht kritisch wäre. Warum das so ist, warum Hegel nicht Gegenstand einer Orthodoxie geworden ist (zu der es Ansätze in der Hegelschen Rechten gab), liegt meines Erachtens an der Hegelschen Philosophie selbst. Sie ist, wie Hegel es jeder Philosophie zuschreibt, „ihre Zeit in Gedanken gefaßt“ und mit Empirie gesättigt wie kaum eine andere Philosophie. Dieser Zeitbezug der Hegelschen Philosophie und ihre empirische Orientierung haben dazu geführt, dass jede Aneignung diesen Bezug zur Zeit und Empirie auch des Aneignenden immer wieder neu herstellen und durchdenken muss. Dies ist nur über ein grundsätzlich kritisches Verhältnis zur Hegelschen Philosophie möglich. Kritik heißt hier: Hegels Philosophie ist unter den jeweiligen Umständen der Zeit – politisch, gesellschaftlich, wissenschaftsgeschichtlich – neu zu überprüfen darauf, ob sich, Hegelsch gesprochen, die logische Idee in der Realität der Natur und des Geistes wiedererkennen könnte. Und es sollte nicht überraschen, dass Hegel dabei auch grundlegenden Kritiken unterzogen wird.

Etwas Anderes ist die Frage, ob die Hegel-Kritik nach Hegel immer philosophisch motiviert ist. Für Feuerbach z.B. würde ich dies verneinen wollen; Feuerbach bricht an einem bestimmten Punkt die Auseinandersetzung mit Hegel einfach ab, weil er davon überzeugt ist, dass er nur durch diesen Bruch etwas bewirken kann. Der neue Anfang, den er macht; wird aber immer wieder eingeholt durch die unbewältigte Hegelsche Philosophie. Ich habe dies in einer Reihe von Arbeiten zu Feuerbach nachzuweisen versucht. Marx gehört zu den Wenigen, die Feuerbach hierin kritisiert haben – trotz aller Wertschätzung, die er zeitweise für ihn hegte. Auch später ist die Kritik an Hegel oftmals nicht wirklich eine Auseinandersetzung mit seiner Philosophie. Das gilt auch für die marxistische Rezeption; denken Sie an Stalins Verdikt, Hegel sei Philosoph der preußischen Reaktion. Auf der anderen Seite waren die Angriffe der (logischen) Positivisten, kritischen Rationalisten und Anderer nicht viel reflektierter. Eine kritische Aneignung in dem Sinne, wie ich sie eingangs skizziert habe, hat es dagegen nur wenig gegeben.

Weiterhin ist die historisch-kritische, zum Teil auch philologisch orientierte Hegel-Forschung zu nennen, wie sie nicht zuletzt von Gadamer angestoßen wurde; ich denke hier an seinen bekannten Ausspruch, man müsse Hegel „buchstabieren“, also Wort für Wort und Satz für Satz lesen und immanent zu verstehen versuchen. Diese Richtung der Interpretation hat große Verdienste darin, ein differenziertes Bild der Hegelschen Philosophie sowohl in entwicklungsgeschichtlicher als auch in systematischer Hinsicht gezeichnet zu haben, das viele der gängigen Kritiken widerlegt. So lässt sich heute z.B. kaum mehr behaupten, Hegel habe an Kants Kritiken vorbei eine vorkritische Metaphysik restituiert. Die historisch-kritische Interpretation Hegels ist unverzichtbare Voraussetzung jeder Aneignung der Hegelschen Philosophie auch unter aktuellen Gesichtspunkten und kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Aus meiner Sicht ist die marxistisch geprägte Hegel-Interpretation zwar wieder erstarkt, aber doch in den Auseinandersetzungen um Hegel ebenso eher eine Randerscheinung wie Heideggers Hegel-Interpretation. Ich habe allerdings letztes Jahr in Istanbul mit Interesse gesehen, dass es in der Türkei anders zu sein scheint. Bestimmend ist sonst vielfach – gerade in Deutschland – der Gegensatz der analytisch geprägten Philosophie gegenüber jeder Form des historisch-systematischen Philosophierens.

Die Wahrheit seiner Interpretation muss jeder Interpret selbst verantworten. Auf der historisch-kritischen Ebene gibt es sicher auch harte Kriterien, wo man sagen kann, eine Interpretation ist haltbar oder unhaltbar. Es gibt aber auch einen Bereich, über den man streiten kann und muss. In der kritischen, gegenwartsbezogenen Aneignung wird das noch mehr der Fall sein. Aber als Dialektiker sollten wir solchen Streit, wenn er um die Sache geht, gerade aufsuchen.

Ich glaube, dass auf der Grundlage des „Buchstabierens“ Hegels System auch wieder stärker im Ganzen in den Blick der Forschung und Diskussion kommen sollte. Wir müssen zu verstehen versuchen, was eigentlich Hegels Rede vom Absoluten und der Idee meint, wenn diese Idee ihr Dasein nur in der Wirklichkeit der Natur und des Geistes hat. Der Theologieverdacht (auch von Feuerbach herrührend) hat eigentlich schon seit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts den Blick dafür verstellt, das hier wirklich etwas zu entdecken ist.

DL: Der heutige Interpret sollte es vermeiden, die Haltung des Propheten einzunehmen, so als wäre die Wahrheit, die echte Bedeutung der Hegelschen Philosophie eineinhalb Jahrhunderte lang allen verborgen und unzugänglich geblieben, um sich plötzlich und blitzartig einem genialen Forscher zu offenbaren, der natürlich jeweils der letzte sein wird Die Worte Engels’ kommen einem hier in den Sinn, wenn er beschreibt, wie die religiös inspirierten Propheten sich verhalten, die den Beginn einer neuen sozialen Ordnung ankündigen, die sich endlich von den alten Fehlern losgesagt hat: «Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der jetzt aufgetreten und der die Wahrheit erkannt hat [...]. Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart» MEW, Bd. 19, S. 191-92). In unserem Fall wäre die durch die neue Interpretation ermöglichte Ersparnis der Jahre geringer, wenn auch immer noch bedeutend; unverändert aber bleibt das Wesentliche, d. h. die Propheten-Allure.

Ich glaube, eine Textinterpretation kann nur dann korrekt sein, wenn sie in der Lage ist, der Geschichte der Interpretationen Rechnung zu tragen, wenn sie in der Lage ist, die Wirkungsgeschichte, letztendlich die konkrete historische Wirksamkeit des untersuchten Philosophen nicht als die Aufeinanderfolge von Missverständnissen und Fehlern zu liquidieren. Eine neue Lesart Hegels wird nur dann gründlich und anregend sein, wenn sie sich nicht gezwungen sieht, die eigene «authentische» Wahrheit der profanen Geschichte entgegenzuhalten. Man sollte sich eine bedeutende Lehre Hegels auch für die Geschichte der Interpretationen seines Denkens zunutze machen: das Wahre ist ein solches in dem Maße in dem es in der Lage ist, auch das andere als das Wahre, auch das “Falsche” zu erklären.

Da ich mich hier nicht mit der gesamten Wirkungsgeschichte dieses großen Philosophen beschäftigen kann, beschränke ich mich auf einige Betrachtungen über die Wirkungsgeschichte der Rechtsphilosophie und des politischen Hegel. Diejenigen, die ihn in liberalem Sinn interpretieren, scheinen Hayms Anklagerede gegen den angeblichen Theoretiker der Restauration als ein Missverständnis aufzufassen; aber auch die Anderen, die Hayms Interpretation übernehmen, sehen sich gezwungen, die Lesart von Marx und Engels, der Junghegelianer, ja der ganzen Schule (denn auch die «Rechte» liest im allgemeinen den Philosophen unter mehr oder weniger liberalem und fortschrittlichem Vorzeichen) als das Resultat eines Missverständnisses zu betrachten. Sogar die Interpretation der klerikalen und reaktionären Kreise müssen sie als Missverständnis auffassen, weil diese Kreise, weit davon entfernt, sich mit dem angeblichen Theoretiker der Restauration zu identifizieren, ihn schon zu Lebzeiten auf theologischer und politischer Ebene scharf angreifen. Unterschiedlich oder entgegengesetzt ist das Missverständnis, das man sich gegenseitig vorwirft, aber beiden gemeinsam ist der Gebrauch dieser Kategorie, um die gegensätzliche Geschichte der Interpretationen zu erklären.

Wenn man es aber mit Lesarten zu tun hat, die nicht auf einen vereinzelten Forscher, sondern auf konkrete und starke politisch-soziale Bewegungen verweisen (in diesem Fall die nationalliberale Partei Hayms auf der einen und die Hegelsche Schule und sogar die Protagonisten der Arbeiterbewegung Marx, Engels, Lassalle auf der anderen Seite), so erweist sich die Kategorie des Missverständnisses als besonders ungeschickt, denn als «unecht» wird schließlich auf dem Altar der «Authentizität« einer einzelnen Interpretation die wirkliche Geschichte geopfert. Auch die Vermittlung zwischen den beiden entgegengesetzten Interpretationen, die Hegel zu einem zweigesichtigen Philosophen macht, der einerseits der Restauration und andererseits dem Liberalismus zugewandt ist, kann nicht als Lösung des Problems betrachtet werden. Eine solche Lesart würde nur die Ungereimtheiten der anderen beiden summieren: die Kategorie des Missverständnisses würde weiterhin ihre Triumphe feiern, sie würde jetzt sogar beide einander entgegengesetzten interpretativen Richtungen betreffen. Beide wären jetzt gleichermaßen dafür verantwortlich, das Bild eines Philosophen vereinfacht und verflacht zu haben, dessen Komplexität und Mehrdeutigkeit zu erfassen, nicht gelungen war. Außerdem müsste diese Interpretation unter dem Vorzeichen der Aussöhnung immer noch erklären, wie sich bei einem großen Philosophen zwei so offen widersprüchliche Aspekte in Einklang bringen ließen. Natürlich kann es grobe Verzerrungen und Verfälschungen geben (wie die, die einige «Theoretiker» des Nazismus, im Widerspruch zu anderen und nicht nur Hegel betreffend vorgenommen haben), aber ihr Auftauchen und ihre Verbreitung verweist auf außerakademische Realitäten.

Wenig Sinn hat es daher, sich bei den wahren oder angeblichen „Missverständnissen“ aufzuhalten, ohne der politisch-sozialen Geschichte Rechnung zu tragen, die hinter ihnen steht. Man muss vielmehr einen anderen Weg einschlagen und einen methodologischen Hinweis aufnehmen, den uns gerade Hegel gibt, nach dem der «geistreichen Reflexion» das „Auffassen und Aussprechen des Widerspruchs“ gelingen müsse (W, VI, 78). Sowohl der Rückgriff auf die Kategorie des Missverständnisses als auch der Versuch großzügiger Aussöhnung schwächen dagegen den Widerspruch ab oder löschen ihn sogar aus. Der Zusammenstoß und der Widerspruch zwischen den einander entgegengesetzten Interpretationen kann nicht auf den Widerspruch zwischen Drucktext und akroamatischem Text, zwischen öffentlichen und geheimen oder «verborgenen» Quellen, zwischen einem exoterischen und einem esoterischen Hegel zurückgeführt werden. Liest man Ilting, so scheint es manchmal so, als würde die Entdeckung der bisher unveröffentlichten Vorlesungen und die Sicherstellung ihrer Authentizität genügen, um den Widerspruch zu überbrücken. Aber die Vorlesungsnachschriften zirkulierten schon reichlich unter den Zeitgenossen Hegels, ohne dass dies die Servilismusanklage verhindert oder erübrigt hätte. Marx und Engels lesen in der Rechtsphilosophie die theoretische Rechtfertigung der konstitutionellen oder repräsentativen Monarchie ohne auf Vorlesungen Bezug zu nehmen und zitieren in erster Linie nicht die Zusätze, sondern den Drucktext der Rechtsphilosophie. Haym beschäftigt sich schließlich ausführlich mit dem Zusatz zum § 280 (jetzt wissen wir, dass es sich um eine der Vorlesung von 1822-23 entnommene Passage handelt), der die Rolle des Monarchen mit der des “Punkts auf dem i” vergleicht, was Haym aber nicht daran hindert, die Hegelsche Philosophie und sogar den fraglichen Zusatz als absolut unvereinbar mit dem Liberalismus zu halten. Vordringlich zeigt sich wieder der Widerspruch, den Ilting gewissermaßen zu verdrängen sucht, indem er Hayms Interpretation mit dem Drucktext und die Interpretation in liberalem Sinn mit dem akroamatischen Text in Verbindung bringt. Wir haben es nicht mit einem Disput zwischen verschiedenen philologischen Schulen zu tun, die verschiedene und gegensätzliche Materialien und Quellen benutzen, sondern mit einem politischen Kontrast, der sich von denselben Quellen nährt.

Weit davon entfernt, das Ergebnis eines Missverständnisses zu sein, ist Hayms Anklagerede der Ausdruck eines scharfen und unversöhnlichen Kontrasts zwischen Hegel und dem Direktor der Preußischen Jahrbücher, d.h. der Zeitschrift, die das Organ und der Bezugspunkt der damals im Aufbau befindlichen nationalliberalen Partei war.

Lesen wir noch einmal aufmerksam Haym: Hegels Fehler sei es, beständig eine „unterwerfungsbereite und unpatriotische Gesinnung“ gezeigt und sich ununterbrochen Frankreich und Napoleon prostituiert zu haben, um schließlich den anti-nationalen Tendenzen der Restauration zuzustimmen. Von Hayms Standpunkt aus gibt es keinen Widerspruch in der Anklage gegen Hegel, gleichzeitig die Akkomodation mit der Restauration theoretisiert und unkritisch die französische Revolution und Napoleon gerühmt zu haben. Der Philosoph, der mit der Bewunderung Napoleons und der französischen Revolution seine servile und unpatriotische Haltung beweise, bestätige später diese Haltung in Berlin, wo er weiterhin die politische und kulturelle Tradition Frankreichs bewundere und sich damit gegen die deutschtümlerische und franzosenfeindliche Partei richte. Auf diese Weise mache er, zumindest objektiv, gemeinsame Sache mit Metternich und der Restauration, die ihrerseits von Haym beschuldigt werden, die nationalen Hoffnungen Deutschlands gedemütigt zu haben, weil sie die von Deutschland angestrebte Annexion bestimmter Gebiete (Elsaß - Lothringen usw.) verweigert und die «Partei», die diese Bestrebungen verkörperte, unterdrückt hätten. Nationaler Verrat: darin liegt die Folgerichtigkeit der Haymschen Anklagerede. Dieser nationale Verrat geht schon aus den theoretischen Kategorien des Hegelschen Systems hervor, vor allem aus der der «Sittlichkeit», die - nach Haym - dem christlich-germanischen Individualismus fremd sei und vielmehr auf das für die revolutionäre französische Tradition typische Pathos der Gemeinschaft und der Kollektivität verweise.

Es ist nicht der nationalliberale Exponent, der Hegel missversteht (auch wenn es natürlich nicht an Forcierungen und sogar Beschimpfungen fehlt, wie sie bei einem politischen Kampf üblich sind); es sind gewisse heutige Interpreten, die Hayms Lesart missverstehen und akritisch eine Anklagerede unterschreiben, deren Sinn sie nicht wirklich verstehen, da sie nicht einmal die Existenz jener nationalen Frage ahnen, die immerhin den Schwerpunkt dieser Anklage bildet. Zwar stimmt es, dass der Angriff auf Fries in der Vorrede zur Rechtsphilosophie Haym die Möglichkeit gibt, Hegel polemisch mit den Anhängern Metternichs, mit den Unterwürfigen gleichzustellen, wobei er die Anklage gegen den Philosophen seitens Fries’ und seiner «Partei» wiederaufnimmt; aber der heutige Interpret ist es, der die Zentralität der Kategorie Sittlichkeit, die sogenannte Staatsvergötterung, mit der Restauration und nicht mit der revolutionären französischen Tradition in Verbindung bringt. Gewiss wird von Haym kritisiert, dass bei Hegel die politische Gemeinschaft, die „Politie“ als die authentische Verwirklichung des Göttlichen auftrete (Hegel und seine Zeit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 164-66) aber dies ist die Wiederaufnahme eines Motivs, das schon Schelling dazu gedient hatte, die französischen Revolutionäre zu verurteilen, weil sie vergessen hätten, dass „die wahre politeia [...] nur im Himmel“ ist (Stuttgarter Privatvorlesungen, in Sämtliche Werke, Cotta, Stuttgart-Augsburg, S. 461-62). Und Haym, der in der angeblichen Staatsvergötterung schon des jungen Hegel die anhaltende Vorliebe für antike Modelle kritisiert, wußte sehr wohl, daß die Rühmung der Antike höchstens auf Rousseau und die Jakobiner, aber sicher nicht auf die Restauration verwies. Der heutige Interpet ist es vielmehr, der in der Haymschen Kritik der „Staatsvergötterung“ Hegels eine Art Verteidigung der Ideen von 1789 erblickt, die in Wirklichkeit nicht nur kritisiert, sondern als unvereinbar mit dem „protestantisch-germanischen Prinzip der freien Persönlichkeit“ hingestellt werden. Der heutige Interpret vergisst also, dass Haym ein Nationalliberaler ist, der nicht nur gegen Hegel, sondern auch z. B. gegen Varnhagen von Ense, Heine, Gans und das Junge Deutschland polemisiert; dies natürlich nicht, weil sie des Servilismus der Restauration gegenüber verdächtigt würden, sondern weil sie der „französischen Kultur“ anhingen und Sympathien «mit dem französischen Liberalismus, mit dem Voltaireschen und Rousseauschen Wesen» hatten.

Hat man erst einmal die wahre Natur des Widerspruchs verstanden der zwischen Hegel und Haym einerseits und zwischen Hegel und Marx - Engels andererseits besteht, so braucht man keine der beiden entgegengesetzten Interpretationen als Resultat eines Missverständnisses zu liquidieren. Es gibt sogar einige übereinstimmende Punkte. Z. B. wird die Bewunderung Hegels und seiner Schüler für die französische Revolution und für die französische politische Kultur und Tradition sowohl im einen als auch im anderen Fall konstatiert. Mehr noch. Marx hebt hervor, dass Hegel die bürgerliche Gesellschaft als bellum omnium contra omnes darstelle; aber Haym wirft Hegel gerade vor, den Wert und die Unantastbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft verkannt zu haben. In beiden Beispielen ist nur das Werturteil anders und gegensätzlich, und Haym formuliert sein Werturteil, indem er als zutiefst antiliberal und typisch für die Restauration diejenigen Thesen und Analysen ausgibt, die für Marx die fortschrittlichsten waren. Historisch gesehen hat das Haymsche Werturteil überwogen, allerdings nur das Werturteil - man beachte dies - nicht die konkreten Elemente der Analyse. Unter diesem Gesichtspunkt wohnt man sogar gelegentlich einer regelrechten Umkehrung bei: beweist Haym den antiliberalen Charakter der Hegelschen Philosophie auf der Grundlage seiner Verbindungen zur (ganz vom totalitären Pathos der politischen Gemeinschaft durchdrungenen) französischen Revolution und politischen Tradition, so übernehmen gewisse heutige Interpreten zunächst akritisch das Werturteil Hayms und erläutern dann dessen Gültigkeit, indem sie zu beweisen versuchen, dass Hegel den Ideen von 1789 fremd oder feindlich gegenübergestanden sei. Der Philosoph, der nach Haym zu schließen, nicht in der Lage gewesen ist, die moderne Freiheit zu verstehen, weil er der germanischen oder der germanisch-protestantischen Tradition fern stand, wird weiterhin als der modernen Freiheit fern stehend betrachtet, aber jetzt, weil er in eine kontinuierliche Linie, die bis zu Hitler reicht, eingereiht wird. Natürlich gibt es auch eine kontinuierliche Linie, die von Haym bis Topitsch oder bis zu Popper und Hayek reicht, und zwar das Lob des Liberalismus in Entgegensetzung zum wie auch immer beschaffenen „Totalitarismus“.

Das Verständnis der ganzen politischen Geschichte der Hegeldeutungen ermöglicht es uns, Klarheit zu schaffen: hier kann und muss man zum Text zurückkehren, aber nicht als wäre man Wundersamerweise zum Punkt Null der Geschichte der Interpretationen zurückkatapultiert worden, sondern mit der Reichhaltigkeit und Vielfältigkeit der Hinweise, die aus der Rekonstruktion der politischen Geschichte der Interpretationen hervorgehen. Diese Reichhaltigkeit und Vielfältigkeit muss sich der heutige Interpret zunutze machen, um die Konditionierungen seiner Lesart zu verstehen und um sich der kulturellen und auch politischen Kategorien bewusst zu werden, die seine an Hegel gerichteten Fragen bestimmen. Die politische Geschichte der Interpretationen hat nichts mit der von Gadamers Hermeneutik so geschätzten „Wirkungsgeschichte“ zu tun, die die Kategorie „Missverständnis“ mit liebenswürdiger Irenik durch die Kategorie des zwischen Interpret und Text unterschiedlich artikulierten „Dialogs“ ersetzt; sie ignoriert allerdings die Kategorie des objektiven Widerspruchs und die politisch-soziale Dimension der hermeneutischen Debatte nicht weniger radikal als die hier von mir kritisierte Historiographie.

In diesem Interview und auch anderswo (Hegel und die Freiheit der Modernen, Peter Lang, 2000) gehe ich dagegen von einer bewussten und expliziten Voraussetzung oder Hypothese aus: eine falsche Frage kompromittiert das Verständnis der Rechtsphilosophie, und zwar die Frage nach dem Liberalismus oder Illiberalismus ihres Autors. Dies ist eine falsche Frage, denn sie schließt eine kategorische aber unbewusste Stellungnahme innerhalb einer politischen Debatte mit ein, die die Geschichte der Hegelinterpretationen durchzieht und die noch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Eine Stellungnahme, die auf die akritische Zustimmung zur apologetischen Darstellung hinausläuft, die die Tradition des liberalen Denkens von sich selber abgibt: Marx und Engels haben sich nicht auf die Suche nach einem esoterischen, dem exoterischen entgegenzuhaltenden Hegel gemacht, weil sie von Anfang an das Bewusstsein gewonnen hatten, dass das Hegelsche Denken, trotz der Grenzen des Systems (die auf das «deutsche Elend» rückführbar waren) weit über die Positionen derer hinausging, die Engels die «beschränkten Liberalen» nennt, wenn er den Autor der Rechtsphilosophie gegen die Angriffe vom Typ Hayms verteidigt (MEW, Bd. 20, S. 266).

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